Teil 1: Alles muss raus!
Der Regen strömt, das Grundwasser steigt. Alles ersäuft. Erst die Kräuter, anschließend die Rubinette, nun meine Wohnung
Das alte Tonstudio ist auf 4 Ebenen gebaut. Vom Eingang aus geht es immer wieder einige Stufen tiefer, Eingang und Flur auf der ersten Ebene; zweiter Flur, Wohnküche und Badezimmer auf der zweiten; Schlafzimmer und Bibliothek (Durchgangszimmer) auf der 3. Ebene, das Wohnzimmer liegt auf der 4. und somit auf Höhe des Gartens. Bevor ich eingezogen bin, waren alle Wände aus Bruchstein und verkleidet mit diesem Zeug, mit dem Tonstudios gedämmt werden und das immer aussieht wie Eierkartons aus Schaumstoff. Meine Vermieter haben Wände eingezogen, diese verkleidet, Dämmwolle gezogen, Beton gegossen, Boden gelegt und eine wunderschöne Wohnung gebaut. Anstelle des Mischpultes gibt es jetzt ein Schlafzimmer mit begehbarem Kleiderschrank, die Bühne und der Aufnahmeraum wurden zum Wohnzimmer und was dort war, wo jetzt meine große Küche ist, weiß ich gar nicht. Vielleicht die Drogenhöhle oder was Musiker eben sonst so brauchen. In dem kleinen Apartment auf dem Hof, das immer nur Kurzzeitmieter hat, und in das ich mich derzeit einquartiert habe, war früher die Teeküche; in ihr haben sich die Fantastischen Vier, während sie hier ihre erste Platte produziert haben, Kaffee gekocht und Thomas D. hat zu der Zeit noch Bockwürste gegessen.
Jahrelang war die Welt im alten Tonstudio in Ordnung, auf dem Nachbargrundstück wurde gebaut und ein Rasen angelegt und dann kam der nasseste Sommer seit Jahren. Von der Nachbarwiese stößt nun ein schmaler Plattenweg direkt an eine der Außenwände. Das Wasser kann nicht weg, es staute sich zuerst, jetzt findet es seinen Weg und freut sich darüber, dass der Bauherr von nebenan über viele Meter hinweg die Folie zur vertikalen Abdichtung fehlerhaft gelegt hat. Inzwischen sickert es vertikal und von unten in meine Wohnung und der Schimmel kriecht die Wände herauf. Das Schlafzimmer ist am Arsch, meine Bibliothek vollflächig hinüber, im Eingang zum Wohnzimmer stoppt der Schimmel derzeit einen Millimeter vor der Farbe Calamine von Farrow & Ball, die der Liebste erst im Sommer 2015 liebevoll aufgetragen hat.
Wände mit Hydrophobie
Es gibt indessen verschiedene Möglichkeiten, das massive Eindringen der Feuchtigkeit zu stoppen. Eine davon ist, viele kleine Löcher zu bohren und eine spezielle Masse nach und nach in das Mauerwerk zu spritzen, um es hydrophob zu machen. Das wird so lange gemacht, bis das Mauerwerk keine Masse mehr aufnehmen kann. Jetzt werden aber erst einmal fast alle Wände in meiner Wohnung mit einer Stichsäge aufgeschnitten, damit der Architekt dahinterschauen und entscheiden kann, was der nächste richtige Schritt ist. Von außen wird einmal rundherum das Grundstück aufgegraben. Angefangen mit der Terrasse, auf der mein Kräutergarten in ca. 40 Töpfen und Kübeln steht, dann um das Wohnzimmer herum. Die Weinrebe, die ich vor 3,5 Jahren gepflanzt habe und die sich fröhlich um mein bodentiefes Wohnzimmerfenster rankt, muss ebenso raus wie der große Rosenbusch gleich daneben und „King Theodore“, meine historische Kapuzinerkresse. Dann geht die Buddelei weiter, um das Tonstudio herum, mein Schlafzimmer entlang, weiter am Bad, bis zur Küche. In der Küche selbst ist derzeit der geringste Befall, nur eine kleine Ecke zum Flur/Hof hin muss dort entfernt werden.
Also haben der Liebste und ich in den letzten Tagen meine Wohnung eingepackt. Ein Teil steht nun in einer (trockenen!) Kammer auf dem Gelände der Hofreite, ein Teil im Apartment und in der Küche. In der Küche liegen auch ca. 50 Kochbücher auf dem Tisch und darunter, die anderen sind von Feuchtigkeit durchzogen in Kisten verpackt auf den Wertstoffhof gewandert. In der Küche ist auch meine Kleidung gelagert, auf Kleiderstangen, über Sessel geworfen, in Wäschekörben gestapelt. Im Wohnzimmer steht nur noch ein Sofa ohne Polster und die eingewickelten Sideboards sind in der Mitte des Raumes zusammengeschoben. Ich benutze das Bad in meiner eigenen Wohnung, wandere dann in die Kammer und ziehe mich an oder ich wandere in die Kammer und ziehe mich im Bad an. Ich schlafe im Apartment und manchmal auch beim Liebsten oder ich schlafe beim Liebsten und arbeite manchmal am kleinen Tisch im Apartment. Es ist alles egal, wie ich es mache, der Wahnsinn agiert eh und ich kichere immer noch irre vor mich hin. Wegen Paul O'Malley verbringe ich trotzdem viel Zeit in der Hofreite, ich kann ihn schließlich nicht einfach einpacken und mit in unsere Stadtwohnung nehmen.

Es ist ein komisches Gefühl, hier zu sein und doch die eigene Wohnung praktisch nicht nutzen zu können. Meine Höhle ist weg, mein Schutz, mein Rückzugsraum in seelisch unstabilen Zeiten. So viele schöne Dinge wurden beschädigt, meine Bücherregale mussten alle entsorgt werden, nur wenige Gegenstände und Bücher konnte ich retten. Durch mein Fasten fühle ich mich derzeit wie in einem Kokon, Trauriges kommt nur mit Verzögerung bei mir an. Eigentlich ist das alles zum Heulen, aber ich trage, trotz einer dem Fasten geschuldeten erhöhten Empfindsamkeit, so etwas wie eine Lederhaut um meine Seele, die nur in eine Richtung atmet: Nach innen.
Die aufgerissenen Wände zeige ich euch beim nächsten Mal.

Genießt euren Tag!